Ehrlichkeit in Beziehungen
Aus eigenen Umfragen wissen wir, dass die überwältigende Mehrheit unserer Mitglieder sehr großen Wert auf Offenheit und Ehrlichkeit in einer Beziehung legt. Aber was sind die Voraussetzungen für Ehrlichkeit und führt Ehrlichkeit tatsächlich zu einer höheren Beziehungszufriedenheit? Ist sogar absolute, radikale Ehrlichkeit möglich? Welche Rolle spielt Ehrlichkeit für Partnersuche und initiales Kennenlernen? Diesen Fragen gehe ich in meinem heutigen Blog-Artikel nach.
Beginnen möchte ich mit dem Ehrlichkeits-Paradox, welches sich auch in den folgenden Daten von Boon und McLeod (2001) zeigt, die Student:innen in Beziehungen befragten:
- Fast alle Befragten gaben an, dass sie glaubten, dass komplette Ehrlichkeit für eine Beziehung wichtig sei. Aber trotzdem bejahten nur 27% die Aussage, dass der Erfolg einer Beziehung auf kompletter Ehrlichkeit beruhe. 65% der Befragten gaben demgegenüber an, dass es auf die Situation ankomme. 63% bejahten explizit die Frage, ob Beziehungspartner:innen einander jemals täuschen sollten. Von diesen Befragten gaben 59% an, dass Täuschung legitim sei, um die Gefühle von Beziehungspartner:innen zu schützen, 14% wollten so die Beziehung vor Schaden bewahren, 10 % vertraten die Auffassung, dass kleinere Täuschungen in Ordnung seien, 6% gaben an, dass Täuschungen besser seien als ein Konflikt.
Lügen, um Beziehungspartner:innen nicht zu verletzen, eine Beziehung nicht zu schädigen oder Konflikte zu vermeiden, beginnen früh:
Dykstra et al. (2020) beobachteten solche Lügen bereits in einer Untersuchung mit 1313 Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 bis 15 Jahren. Sie stellten dabei aber gleichzeitig fest, dass Lügen, um negative Folgen für Beziehungspartner:innen oder Beziehungen zu vermeiden, mit wachsendem Alter zunahmen. So neigten Kinder und Jugendliche mit wachsendem Alter immer mehr dazu, beispielsweise Verabredungen nicht abzusagen, weil sie keine Lust, sondern weil sie wahrheitswidrig andere Verpflichtungen hätten. Offenbar wollten sie so vermeiden, die Gefühle ihrer Freund:innen zu verletzen und die Freundschaft zu gefährden.
Die von Boon und McLeod beobachtete mehrheitliche Bejahung von Täuschung zum Schutz von Gefühlen von Beziehungspartner:innen spiegelt insofern ein offenbar sehr frühes Beziehungsmuster wider, welches bereits in Freundschaftsbeziehungen im Kindes- und Jugendalter eingeübt wird.
Der Wunsch nach Ehrlichkeit scheint also einerseits tiefgreifend verankert zu sein, andererseits treten bereits früh und gewohnheitsmäßig Strategien der Täuschung auf.
Ist diese Täuschung alternativlos? Oder könnte es möglich sein, Ehrlichkeit mit dem Schutz von Beziehungspartner:innen und Beziehungen zu vereinbaren?
Auswirkungen verletzender Bemerkungen
Eine Studie von Zhang und Stafford (2009) untersuchte die Auswirkungen ehrlicher, verletzender Botschaften auf die betreffenden Beziehungen. Dabei unterschieden die Autor:innen zwischen negativen Auswirkungen (Schwächung der Beziehung durch Misstrauen und Hostilität), positiven Auswirkungen (Stärkung der Beziehung durch mehr Vertrauen und Sympathie), sowie Beziehungs-Sorgen.
Als Einflussfaktoren untersuchten die Autoren:
- die Stärke der Verletztheit durch eine übermittelte Botschaft
- die Annahme der Empfänger:innen, dass sie verletzt werden sollten (Verletzungs-Intention)
- die Annahme der Empfänger:innen, dass die Nachricht ihnen zu Verbesserung/Weiterentwicklung verhelfen sollte (Verbesserungs-Motiv)
- die Einschätzung, dass die Überbringer:innen ehrlich sein wollten (Ehrlichkeits-Motiv)
- die grundsätzliche Wertschätzung der Empfänger:innen für Ehrlichkeit in einer Beziehung
- den Selbstwert der Empfänger:innen
Dies waren die Haupt-Ergebnisse:
- die Stärke der Verletztheit und die Verletzungs-Intention gingen mit einer Schwächung der Beziehung einher. Die Stärke der Verletztheit korrelierte zudem mit verstärkten Beziehungs-Sorgen.
- Ehrlichkeits-Motive und Verbesserungs-Motive gingen mit einer Stärkung der Beziehung einher.
- ein hoher Selbstwert korrespondierte mit einer Abschwächung von negativen Folgen für die Beziehung und mit geringeren Beziehung-Sorgen.
- eine hohe Wertschätzung für Ehrlichkeit ging mit einer Stärkung der Beziehung einher.
Voraussetzungen für Ehrlichkeit
Nach den gerade dargestellten Befunden ist Ehrlichkeit in Beziehungen also unter folgenden Voraussetzungen möglich:
- Beziehungspartner:innen wertschätzen Ehrlichkeit in einer Beziehung und haben entsprechend die miteinander geteilte Überzeugung, dass Ehrlichkeit richtig ist.
- Beziehungspartner:innen tätigen potentiell verletzende Äußerungen, um Verbesserungen und Weitereinwicklungen zu erreichen oder um miteinander ehrlich zu sein, nicht aber, um einander zu verletzen.
- Beziehungspartner:innen haben einen ausreichend stabilen Selbstwert, um auch mit verletzenden Äußerungen umgehen zu können.
Wie lassen sich diese Voraussetzungen herstellen?
Sich einfach nur darauf zu verlassen, dass die Voraussetzungen automatisch entstehen werden, dürfte meistens unzureichend sein:
Beziehungspartner:innen bringen in eine Beziehung ihre gesamte Lebens- und Lerngeschichte ein, in der sie typischerweise ebenfalls lernten, situationsspezifisch unehrlich zu sein.
Wir neigen dazu, Handlungen zu wiederholen, für die wir Belohnungen erwarten und Handlungen zu unterlassen, für die wir eine Bestrafung erwarten. Diese Erwartungen bilden sich wiederum aus unserer Gesamterfahrung, sie sind insofern Ergebnis unserer gesamten Lebens- und Lerngeschichte. In diesem Sinne begleitet uns die Vergangenheit auch immer ein Stück weit mit in der Zukunft.
Je öfter wir also in der Vergangenheit für Unehrlichkeit belohnt und für Ehrlichkeit bestraft wurden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir auch künftig in Beziehungen unehrlich sein werden.
Es genügt also nicht, die Dinge einfach unausgesprochen zu belassen, sondern Beziehungspartner:innen sollten miteinander über die eigene Kommunikation reden.
In diesem Sinne plädierten bereits vor 25 Jahren LaFolette und Graham für Meta-Ehrlichkeit in Beziehungen als Voraussetzung für echte Intimität.
- Meta-Ehrlichkeit bezieht sich nicht nur auf die korrekte Darstellung einzelner Sachverhalte, sondern auf die gemeinsame Reflexion der eigenen Kommunikationsstile, einschließlich des Umgangs mit Ehrlichkeit und einer bestehenden Tendenz, bestimmte potentiell beziehungsbelastende Inhalte nicht aussprechen zu wollen.
- Sprechen Beziehungspartner:innen hierüber, kommt es nicht zu einer sich selbst verstärkenden Unehrlichkeit, sondern Impulse zur Unehrlichkeit werden erkannt, benannt und dadurch gebannt. Ehrliches Verhalten kann so gemeinsam eingeübt werden.
Angstfreie Kommunikation
Gelingen kann die Etablierung von Ehrlichkeit in Beziehungen nur, wenn die Beziehungspartner:innen einen nicht-strafenden Kommunikationsstil praktizieren, der ihnen die offene Schilderung ihres eigenen Erlebens ermöglicht, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. Es geht darum, ohne Angst voreinander miteinander offen reden zu können.
Solch ein Stil stellt sich nicht von selbst ein, sondern explizite Vereinbarungen und die Einübung nicht-strafender Kommunikation sind erforderlich – schließlich ist dieser nicht-strafende Kommunikationsstil im Regelfall weit von dem entfernt, was Menschen in Beziehungen zuvor jahrelang oder gar jahrzehntelang praktizierten.
Negative Reaktionen auf Ehrlichkeit, wie Enttäuschung, Ärger, Wut bis hin zu Trennungsdrohungen sind zu häufig, als dass angstfreie Kommunikation ohne explizite Verabredung und Bemühung mehrheitlich in Beziehungen spontan entstehen würde.
Ehrlichkeit, Partnerschaft und Zufriedenheit
Sollen Beziehungen tatsächlich absolut ehrlich sein?
In Studien zu Beziehungen wird unterschieden zwischen sogenannten obligatorischen Regeln und Ermessensregeln:
- Obligatorische Regeln schreiben ehrliches Verhalten unter allen Bedingungen vor. “Wir erzählen uns alles über unserer vorherigen Beziehungen” ist ein Beispiel für eine obligatorische Regel.
- Ermessensregeln formulieren Ausnahmesituationen, in denen von Ehrlichkeit Abstand genommen werden kann: “Manchmal ist es besser, Dinge nicht zu erzählen, um Konflikte zu vermeiden“. Wann dies “manchmal” gilt und wann nicht, liegt im Ermessen derjenigen, die sich an dieser Regel orientieren.
Beziehungen unterscheiden sich im Ausmaß, in dem obligatorische Regeln oder Ermessensregeln dominieren. Eine Studie von Muñoz und De Los Reyes (2021) zeigt, dass hier der individuellen Persönlichkeit der Beteiligten eine bedeutsame Rolle zukommt:
Die Autor:innen befragten Student:innen, wie stark sie obligatorische Regeln oder Ermessensregeln bejahten. Zudem wurde die Ausprägung der Befragten in den Persönlichkeitsmerkmalen der sogenannten “dunklen Triade” erhoben: Machiavellismus (Manipulation), Narzissmus (Egozentrismus) und Psychopathy (antisoziale Grundhaltungen und Impulsivität).
- Die Autor:innen beobachteten, dass Ermessensregeln umso stärker bejaht wurden, desto höher die Ausprägungen in Psychopathie und Machiavellismus ausfielen. Psychopathy führte zusätzlich zu einer starken Reduktion der Bejahung von obligatorischen Regeln.
Diese Ergebnisse spiegeln insofern den manipulatorischen Charakter des Machiavellismus wider, der die Mittel mit dem eigenen Ziel rechtfertigt, sowie die generalisiert antisoziale Komponente der Psychopathie, die global jede Notwendigkeit zur Ehrlichkeit verneint.
Ohne individuelle Veränderungsmöglichkeiten ausschließen zu wollen, ist die Wahrscheinlichkeit für eine ehrliche Beziehung bereits eine Frage der Partnerwahl, also mit welchem Menschen eine Beziehung begonnen wird:
- Treffen Sie auf Menschen mit stark manipulativen Zügen, der Überzeugung, dass ein Ziel alle Mittel rechtfertige oder gar auf Menschen mit dezidiert antisozialen Einstellungen, werden Sie wahrscheinlich kaum Ehrlichkeit erwarten können.
Was kurzfristig als faszinierend erlebt werden mag, kann später zur Quelle von Leid und seelischem Schmerz werden. Im schlimmsten Fall landen sie so in einer toxischen Beziehung (siehe den vorherigen Artikel zum Schutz vor emotionalem Missbrauch und toxischen Beziehungen).
Intuitiv scheinen vielen Menschen diese Zusammenhänge durchaus bewusst zu sein:
- So zeigte eine Studie von Mogilski et al. (2019), dass mit Abstand das Persönlichkeitsmerkmal Ehrlichkeit für die Partnerwahl von den 918 Befragten als wichtiges Merkmal erachtet wurde. Dabei traten keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf.
Diese starke Präferenz für Ehrlichkeit bei Beziehungspartner:innen ist bereits ab einem frühen Lebensalter vorhanden, wie eine Studie von Weber und Ruch (2012) mit 174 Befragten (87 Paaren) im Alter von 13 bis 19 Jahren zeigte:
- Befragt nach idealen Beziehungspartner:innen war Ehrlichkeit die am meisten gewünschte Charakterstärke.
Darüber hinausgehend konnte diese Studie aber auch einen klaren Einfluss der wechselseitigen Ehrlichkeit (als Charaktermerkmal) in Paarbeziehungen auf die eigene Lebenszufriedenheit nachweisen:
- Paare, in denen beide Partner:innen einen hohen Grad an Ehrlichkeit aufwiesen, waren deutlich zufriedener mit ihrem Leben als gemischte Paare oder als Paare, in denen beide Beziehungspartner:innen einen geringen Grad an Ehrlichkeit aufwiesen.
Möglichkeit zur radikalen Ehrlichkeit
Die bisherigen Darlegungen legen nahe, dass
- Personen mit sozial problematischen Persönlichkeitsmerkmalen – wie Machiavellismus und Psychopathy – verstärkt Unehrlichkeit bejahen.
- bei einer idealen Partnerwahl Ehrlichkeit ein wichtiges Kriterium ist.
- Menschen in Beziehungen eine besonders hohe Lebenszufriedenheit entwickeln, wenn beide Seiten ehrlich sind.
Andererseits kann Ehrlichkeit auch mit verletzenden Botschaften einhergehen und dadurch zu einer Belastung für eine Beziehung werden. Genau dies dürfte der Grund sind, warum in Studien Befragte mehrheitlich die Frage verneinten, dass für den Erfolg einer Beziehung absolute Ehrlichkeit erforderlich sei – und dies obwohl die gleichen Befragten absolute Ehrlichkeit für wichtig hielten.
Offenbar wird in Beziehungen von einer Mehrheit mindestens gelegentlich von dem Ideal der Ehrlichkeit abgewichen, um Beziehungspartner:innen nicht zu verletzen, die Beziehungen zu schützen oder Konflikte zu vermeiden.
Problematisch hieran kann allerdings werden, dass genau diese Unehrlichkeit wiederum zu weiteren Verletzungen führen kann. Zudem besteht die Gefahr, dass sich unehrliche Muster durch den erzielten Erfolg verstärken und zu einem generalisierten Gewohnheitsmuster werden. Dies mag dazu führen, dass Beziehungspartner:innen sich nicht mehr wirklich kennen oder sogar ein dezidiertes Doppelleben führen.
Eigentlich spricht insofern einiges dafür, an der Umsetzung des Ideals radikaler Ehrlichkeit zu arbeiten. Allerdings sind wir solche radikale Ehrlichkeit in einer Gesellschaft kaum gewohnt, in der diese zum Risiko für Scheitern und Absturz werden kann:
- In einem hierarchischen Machtgefälle – z.B. in einer Firma – kann geäußerte Kritik negative Konsequenzen haben oder gar zur Kündigung führen. Tätige in Handel und Verkauf mögen geringere Umsätze erzielen, wenn sie mit ihren Kunden nur die Wahrheit sprechen. Viele Priester würden wohl mindestens diszipliniert werden, wenn sie ihre tatsächlichen Ansichten oder ihren echten Lebenswandel preisgäben. Wie in der Religion so auch in der Politik, wo ein strategischer Umgang mit der Wahrheit zum Alltag gehört.
Im Grunde lässt sich wohl sagen, dass machiavellistisch-psychopathische Züge einen nicht geringen Anteil unseres gesellschaftlichen Lebens prägen. Aber sollten wir daraus schließen, dass wir diese Strukturen – selbst wenn wir ihnen womöglich nicht überall ganz entkommen können – auch in unsere engsten und intimsten Beziehungen hereinholen sollten?
Was spricht eigentlich dagegen, miteinander radikal ehrlich umzugehen?
Erneut kommen wir zur Angst, durch Ehrlichkeit zu verletzen und die Beziehung zu schädigen. Hier zeigen jedoch die bereits besprochenen Befunde von Zhang und Stafford (2009), dass sich mögliche negative Folgen mindern und mögliche positive Folgen steigern lassen, wenn Beziehungspartner:innen beiderseits Ehrlichkeit wertzuschätzen und potentiell verletzende Bemerkungen nur dann tätigen, wenn die Ehrlichkeit dies erfordert oder dadurch Verbesserungen möglich scheinen. Auch die offene Darlegung von eigenen Impulsen zur Unehrlichkeit und des Umgangs mit diesen kann hier im Sinne einer Meta-Ehrlichkeit hilfreich sein.
Schließlich gilt “der Ton macht die Musik“:
- Ehrliche Bemerkungen brauchen und sollten weder unfreundlich noch rücksichtslos kommuniziert werden. Sie können eingebunden werden in einen liebevollen und freundlichen Umgang miteinander. Sie können als Ausgangspunkt für gemeinsame Bemühungen für Verbesserung vermittelt werden.
Beziehungspartner:innen können sogar explizit miteinander üben, kritische Bemerkungen und Bewertungen miteinander auszutauschen, um zu lernen, mit ihnen konstruktiv und positiv umzugehen. Klappt es in der spielerischen Übung, wird es auch im Ernstfall besser klappen.
Und wenn die Nachricht wirklich für die Beziehung desaströs ist?
Dies kann nur der Fall sein, wenn es einen Sachverhalt gibt, die unveränderbar ist oder der dezidiert nicht verändert werden soll und der mit Sicherheit und ebenfalls unveränderlich von Beziehungspartner:innen nicht akzeptiert werden könnte oder der sogar direkt zur Beendigung der Beziehung führen würde.
Ersteres könnten zahlreiche Aspekte sein – wie Aufgabe grundlegender gemeinsamer Lebensprinzipien, Veränderung der eigenen Gefühle oder bei einer monogamen Beziehung romantische oder sexuelle Beziehungen zu anderen Personen.
Letzteres wäre beispielsweise der Fall, wenn sich eine Person zur Trennung fest entschlossen hat und der Auszug nun ansteht.
Zunächst ist zu sagen, dass der größte Teil möglicher Vorgänge oder Vorfälle nicht diesen Schweregrad erreicht. Verstöße gegen Lebensprinzipien oder Vereinbarungen werden meistens bedauert und gerade bei Ehrlichkeit lässt sich oft zu einem Konsens zurückfinden.
Zudem sind keineswegs alle Probleme unlösbar, die womöglich vor einer offenen Ansprache als unlösbar scheinen. So mögen sich Modelle der Beziehungsgestaltung verändern. An die Stelle einer monogamen Beziehung mag eine offene Beziehung treten, oder umgekehrt. Womöglich zeigt ein Gespräch, dass es beiden Seiten lieber ist.
Es wäre eine Illusion anzunehmen, dass Gefühle zu absolut jeder Zeit und in jedem Moment gleich sind. Auch Liebesgefühle können schwanken und sie tun es in allen langandauernden Beziehungen. Sind die Gefühle bei einer Seite momentan etwas schwächer, ist dies kein Grund, in Panik zu verfallen oder gar die Beziehung halsüber Kopf zu beenden.
Je besser es gelingt, einen guten Alltag miteinander zu führen und je offener, erlebnis- und veränderungsbereiter Beziehungspartner:innen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass es nur Schwankungen sein werden und die Gefühle bald wieder zurückkehren oder gar stärker werden als zuvor. So zu tun als ob nichts sei und schweigen, löst das Problem nicht, sondern erhöht eher die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Beziehungspartner:innen tatsächlich auseinanderentwickeln werden.
Auch Trennungsentscheidungen müssen nicht endgültig sein und können wieder aufgegeben werden.
Aber selbst wenn die Entscheidung unwiderruflich sein sollte, würde das umso mehr dazu auffordern, sie zu thematisieren. Aufschieben hilft nicht, sondern macht es allen Seiten noch schwerer. Das schlimmste überhaupt ist ein Ghosting, wo Beziehungspartner:innen ohne jede Aussprache verschwinden. Explizite Abweisung ist weniger schlimm als Ignoranz und Schweigen.
Gespräche auch über belastende Themen, kritische Bewertungen und Unklarheiten geben uns die Möglichkeit, zu lernen, eine überhöhte Ablehnungssensibilität zu mindern, uns auseinanderzusetzen, kritische eigene Anteile ebenso wie unsere Ressourcen zu erkennen. Bei sinkender Ablehnungssensibilität nimmt unser Selbstwert zu, wodurch wir künftig noch besser in der Lage sein werden, in unserer Beziehung ehrlich miteinander umzugehen.
Was aber, wenn erst durch radikale Ehrlichkeit herauskommt, dass doch sehr unterschiedliche Vorstellungen bestehen und Zweifel an der Passung entstehen?
Wollen Sie in der Illusion einer Passung leben, die nichts anderes ist als eine Seifenblase, die später wohl ohnehin platzen wird?
Ist die Ehrlichkeit radikal, wird sich zeigen, ob es nur eine Trübung ist, aus der Ihre Beziehung wieder zu neuem Leben erwachsen kann, oder ob es in der Tat eine Inkompatibilität ist, die ein gemeinsames Leben nicht mehr als sinnvoll oder möglich erscheinen lässt.
Wir sollten nicht aus Angst vor der Wahrheit in Beziehungen bleiben, sondern den Mut und die Ehrlichkeit haben, uns unserer Beziehungsrealität zu stellen und aus dieser die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Damit will ich hier keineswegs einer verfrühten Trennung das Wort reden.
Manchmal mag sich sogar herausstellen, dass tatsächlich die Passung wie bisher gedacht oder gehofft nicht besteht und wohl auch nicht entstehen wird, aber dennoch Beziehungspartner:innen in der Gesamtbetrachtung bei Akzeptanz der veränderten Lage lieber zusammen bleiben wollen.
So wechseln manche Paare in das Modell der pragmatischen Liebe, die eine Art Kosten-Nutzen-Abwägung darstellt. Nicht starke Gefühle und Leidenschaft stehen hier im Vordergrund, sondern die beidseitige Überlegung, dass die Fortsetzung der Beziehung als wertvoller erlebt als deren Beendigung. Manche Menschen haben bereits so viele Krisen und Schwankungen erlebt, dass sie einen sicheren Alltag im Rahmen einer eher emotional neutralen Beziehung anderen Beziehungsmodellen oder einer Trennung vorziehen und damit auch durchaus zufrieden werden können – selbst wenn andere die Intensität der Gefühle vermissen würden.
Radikale Ehrlichkeit beinhaltet also kein festgelegtes Beziehungsmodell, sondern einen Kommunikationsmodus, der es ermöglicht, in Beziehungen authentisch aufzutreten, auf diese Weise im eigenen Sein authentisch zu werden und dadurch Beziehungspartner:innen so kennenzulernen, wie sie tatsächlich sind, um auf dieser Basis ein gemeinsames Lebensmodell zu finden oder – sollte dies nicht möglich sein – sich im Guten zu trennen.
Mithilfe radikaler Ehrlichkeit können wir mindestens partiell und wenigstens in unseren Intimbeziehungen aus Manipulation, Vormachen und Machthierarchien aussteigen, die uns gesellschaftlich umgeben und dadurch – wenn wir nicht aufpassen – auf uns im eigenen Sein und in unseren Beziehungen abfärben. Im Einzelfall mag es so sogar durch radikale Ehrlichkeit möglich werden, Bedürfnisse und Wünsche zur Wirklichkeit werden zu lassen, die womöglich sonst für immer unerfüllt blieben, weil nie über sie geredet werden würde (siehe vorherigen Artikel zu Sexuelle Ehrlichkeit ist möglich).
Leitfaden zur radikalen Ehrlichkeit
Radikale Ehrlichkeit beginnt bei der Partnersuche. Stellen Sie sich nicht dar, sondern stellen Sie sich vor und zwar so, wie Sie sind. Dabei können Sie selbstverständlich Veränderungswünsche benennen. Denn der Wunsch nach Veränderung gehört genauso zu Ihrer Person wie das, was Sie aktuell umsetzen oder sind. Es ist unehrlich zu sagen, Sie seien körperlich fit, wenn sie dies nicht sind. Es ist aber ehrlich, wenn Sie schreiben, Sie wollen und werden demnächst an Ihrer Fitness arbeiten, sofern dies der Fall ist.
Trudeln sie nicht unbewusst in irgendein Beziehungsmuster hinein, sondern nutzen Sie die Chance, dass Sie erst auf Partnersuche sind für bewusste und gemeinsame Reflexion. Suchen Sie das Gespräch mit ihren möglichen Beziehungspartner:innen, vereinbaren und zeigen Sie Offenheit, machen Sie deutlich, dass sie nicht mehr sich oder anderen etwas vormachen wollen, sondern Authentizität suchen.
Üben Sie gemeinsam Ehrlichkeit im Diskurs ein und achten Sie beide darauf, nicht mit Zurückweisung, Drohungen oder Aggressionen zu reagieren, wenn Beziehungspartner:innen den Wunsch nach Offenheit ernst nehmen und praktizieren. Wie sollten wir Ehrlichkeit von anderen erwarten, wenn wir diese einschüchtern und ihnen Angst einflößen?
Sind wir offen, erfahren wir auch Dinge, die wir vielleicht nicht so gerne hören wollen. Radikale Ehrlichkeit heißt nicht, Liebesbekenntnisse zu erzwingen, sondern die Wirklichkeit zu erfahren, um an diese anknüpfen und sie weiter entwickeln zu können. Überbewerten Sie Dinge nicht, die Sie nun hören, sondern prüfen Sie gemeinsam, ob diese Sachverhalte einer gemeinsamen Beziehungsbasis entgegenstehen oder aber umgekehrt die erreichte Offenheit den Verlust an Illusionen überwiegt.
Radikale Ehrlichkeit ohne Akzeptanz ist kaum möglich, denn keine zwei Menschen sind zu 100% identisch und ganz ohne Enttäuschungen oder Ärgernisse wird es nicht gehen. Akzeptanz heißt nicht, sich aufzugeben, sondern sich selbst bewusst zu werden, das Wichtige vom Unwichtigen, das Verzichtbare vom Unverzichtbaren zu trennen und auf dieser Grundlage reflektierte Beziehungsentscheidungen zu fällen und reife Beziehungen zu führen.
Je stärker Sie radikale Ehrlichkeit einüben, desto weniger werden Sie aus Mücken Elefanten machen, desto mehr werden Ihr Selbstwert, Ihre Auseinandersetzungsfähigkeit und Ihre Beziehungsfähigkeit wachsen. Desto offenherziger werden Sie Beziehungspartner:innen auch kleinere oder größere Fehltritte verzeihen können, was für die Liebe von zentraler Bedeutung ist (siehe vorherigen Blog-Artikel “Verzeihen erhält die Liebe aufrecht”).
Bei praktizierter radikaler Ehrlichkeit werden Sie aber auch rechtzeitiger in den Konflikt gehen können, wenn dieser notwendig ist, also wenn tatsächlich bedeutsame Differenzen bestehen, die aktuell nicht kooperativ geklärt werden können (siehe auch Helfen oder schaden Konflikte?).
Verlangen Sie Ehrlichkeit, aber verlangen Sie nicht zu viel. Womöglich entdecken Sie im Prozess der Partnerfindung oder danach Aspekte bei Beziehungspartner:innen, die Sie nicht erwarteten und die nicht berichtet worden waren. Dies braucht nicht das Ende, sondern kann der Anfang Ihrer Beziehung sein. Was war der Grund des Schweigens? War es Angst? Besprechen Sie miteinander, was beide tun können, um die Angst voreinander abzubauen und zueinander zu kommen.
Zur radikalen Ehrlichkeit gehört auch, bei sich selbst zu erkennen und auszudrücken, wenn Sie das Ideal nicht eingehalten haben. Reagieren Sie auf noch auftretende kleinere Alltagsunehrlichkeiten mit einer Meta-Ehrlichkeit, die Ihnen dazu verhilft, gegenüber sich selbst und in ihrer Beziehung immer wieder auf den Weg der Ehrlichkeit zurückzukehren und so zunehmend gerade Strecken bei abnehmenden Umwegen zurückzulegen.
Finden Sie einen Menschen, der diesen Weg mit Ihnen gehen möchte, ist Ihre Partnerwahl offenbar die richtige.