Die prekäre Welt des Online-Dating

Online-Dating macht womöglich weitaus mehr mit uns selbst, als wir unmittelbar reflektiert wahrnehmen. Was macht es mit uns und wollen wir dies? Diesen Fragen gehe ich in meinem heutigen Blog-Artikel anhand zweier bemerkenswerter Studien nach, die uns gleichzeitig vor Augen führen, dass das Prekäre des Online-Dating tatsächlich das Prekäre unserer Welt ist.

Bandinellis Studie der innerpsychischen Folgen von Dating-Technologien

Carolina Bandinelli veröffentlichte im International Journal of Cultural Policy den Artikel „Dating apps: towards post-romantic love in digital societies“, in dem sie – strikt den Schilderungen ihrer Interviewten folgend – das moderne Online-Dating in seinen Auswirkungen auf nicht-digitale Räume sowie auf unsere Gedanken, Handlungsweisen und Gefühle schildert.

Sie gelangt zu der Schlussfolgerung, dass Online-Dating einen Zugang zu romantischen Beziehungen etabliere, der andere Räume ausschließt, in dem Verunsicherung herrscht und in dem die Teilnehmenden versuchen, den Algorithmus zu kontrollieren, der bis in ihre Selbstbewertung vordringt. Der Wechsel zwischen Bestätigung und Demütigung führe zur Gamifizierung. Die erfolgreichen Teilnehmenden seien die, die verlernten, zu fühlen, und so Schmerzen vermeiden könnten.

Dies sind die Befunde im Einzelnen:

Digitale Räume und der Verlust anderer Kennenlernorte

Liebe war bereits immer in technologische Aspekte eingebunden, vom Liebesbrief bis zum Telefonat. Die modernen Dating-Systeme setzen diese Tradition fort, dringen aber tiefer in das Entstehen von Liebesbeziehungen ein. Sie besetzen einen digitalen Raum, während gleichzeitig andere Räume, wie dritte Orte (Cafés), Freundeskreise und Familie, Arbeitsplätze, Vereine, Religionsgemeinschaften etc. aus dem Prozess des Kennenlernens ausgeschlossen werden.

Menschen rechnen nicht mehr damit, einander außerhalb der modernen Dating-Systeme kennenzulernen. Womit wir nicht rechnen, dazu sind wir aber auch nicht bereit:

„Früher ging es beim Ausgehen genau darum, jemanden kennenzulernen oder mit jemandem anzubandeln, aber heute gehe ich aus, um bei meinen Freund:innen zu bleiben, und es ist selten, jemand Neues kennenzulernen.“

„Ich bin mir nicht einmal sicher, wo man sonst Menschen kennenlernen würde. Außerhalb von Apps. … Man fragt Leute: Kannst du mich jemandem vorstellen? Und sie sagen: Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch Single-Freund:innen habe.“

Alternativlosigkeit der Dating-Systeme

Dating spielt sich in den Apps ab und wird aus dem anderen Leben herausgedrängt. Damit wird es nicht als zusätzliche Möglichkeit erlebt, sondern als der eine Ort an sich, an dem ein Kennenlernen überhaupt noch möglich ist.

Außerhalb der Dating-Apps ist die Bereitschaft zum Kennenlernen kaum da. Längst sind wir dort angelangt, wo es sogar unangemessen wirken kann, wenn wir Begegnungen mit Fremden für die Partnersuche nutzen möchten. Beziehungen entstehen zwar noch z. B. an Arbeitsplätzen, aber sie sind Vorbehalten ausgesetzt.

Die Öffnung des digitalen Raumes für die Partnerfindung verschließt die anderen Räume. Je mehr sich diese anderen Räume schließen, desto mehr beginnen die Strukturen der Dating-Systeme unser Kennenlernen zu steuern.

Wie der Algorithmus die Teilnehmenden besetzt

Deutungsversuche

Die Angaben der Befragten machten deutlich, dass der Algorithmus in den Mittelpunkt ihres Erlebens rückt:

  • Die Nutzer:innen wissen nicht, wie er funktioniert, erleben ihn aber als Instanz, die bewertet, entscheidet und auf ihr Leben einwirkt.

Da der Algorithmus unklar ist, sein vorhandener Einfluss aber klar, entstehen implizite Theorien, wie der Algorithmus wohl funktioniert. So ähnlich, wie religiöse oder magische Überlegungen entstehen, wenn die Welt für uns nicht begreifbar ist.

Kontrollverlust und Kontrollversuche

Bei den Nutzer:innen entsteht das Gefühl, kontrolliert und manipuliert zu werden. Sie erkennen Motive im Algorithmus und versuchen, sich aus seiner Kontrolle ein Stück weit durch Kenntnis und Bewertung des Algorithmus die Kontrolle zurückzugewinnen:

„Ich weiß nicht genau, wie der Algorithmus funktioniert, aber wenn man ein neues Profil erstellt, zeigt er einem Profile von sehr attraktiven Menschen. Man bekommt sofort mehr Matches. Das ergibt Sinn, weil sie einen reinziehen wollen. Ich hatte sofort diesen Dopamin-Kick.“

Manche vermuten beim Algorithmus gar einen Grooming-Prozess, bei dem der Algorithmus wie eine verführende Gestalt in Erscheinung tritt:

„Ich traue Tinders Algorithmus in den ersten paar Tagen nicht, er gibt dir einfach all diese Matches mit Leuten, die wie Supermodels aussehen, und danach ist alles komplett anders.“

Wechsel von Bestätigung und Demütigung

Betreffende fühlen sich nicht nur als Objekte der Manipulation, sie nutzen das Online-Dating auch zur Selbstbestätigung. Die Apps werden verwendet, um sich der eigenen Attraktivität zu vergewissern – vielleicht erklärt dies, warum nach einer Studie zwei von drei Tinder-Nutzer:innen verpartnert sind:

„Ich habe einfach mit Leuten geschrieben, um ein bisschen Bestätigung zu bekommen, weißt du, diese Person findet mich attraktiv. Die meisten nehmen das nicht ernst. Wenn man mit Freund:innen draufgeht, schaut man sich die Bios an, lacht über die Bilder und macht Witze. Ab und zu lässt man sich auf ein Gespräch ein, für ein bisschen Bestätigung, das ist immer nett. Aber dann endet das Gespräch und sie antworten nicht mehr.“

In den Matches erlebten manche Teilnehmende einen regelrechten Ego-Boost:

„Du bekommst ein Match und denkst: Oh, jemand interessiert sich für dich! Wenn Tinder will, dass du die Premium-Version kaufst, sagen sie dir, so und so viele Leute seien an dir interessiert. Und du denkst: Ich muss wirklich attraktiv sein! Das ist ein Ego-Boost.“

Demütigung und Verlust

Der Ego-Boost kann freiwillig schnell ins Gegenteil zurückschlagen:

„Wenn du mit jemandem matchst, denkst du: Diese Person mag mich und ich mag sie auch. Und dann verschwinden sie und ghosten dich. Oder sie schreiben dir und du denkst: Oh nein, ich muss sie ghosten.“

Gamifizierung

Ein undurchschaubarer Algorithmus, Bestrafungen und Belohnungen, Ego-Boost und Demütigung – so entsteht eine Spielstruktur:

„Es fühlt sich wie ein Spiel an und soll sich wie ein Spiel anfühlen, es macht ein bisschen süchtig. Ja, nein, ja nein, oh nein, der ist hässlich! Tinder spielen ist wie ein Spiel. Wenn man mit Freund:innen Profile swipet und sagt: Oh, dieser Typ ist hässlich! Es wird zu einer kommodifizierten und entmenschlichenden Liebe, die ich verrückt finde. Es ist problematisch. Auf einer unterschwelligen Ebene bedeutet das, dass Menschen wegwerfbar sind. Es gibt dieses starke Gefühl, selbst wegwerfbar zu sein, und das ist auf sehr persönliche Weise entmenschlichend.“

Die „Lösung“: Weniger fühlen

Der fundamentalste Prozess, den Bandinelli aus den Antworten ihrer Interviewten herausarbeitet, ist, dass diejenigen, die sich als „erfolgreiche“ Nutzer:innen erleben, genau die sind, die lernen, weniger zu fühlen.

Dating wird distanziert und routiniert:

„Ich bin eher auf der kälteren, logischen Seite. … Wenn du kälter bist, schützt du dich. Wenn du dich um jedes Match kümmern würdest, solltest du nicht auf der App sein.“

Dating-Systeme als neue Taktgeber

Carolina Bandinelli kommt zu dem Ergebnis, dass Dating-Apps nicht einfach neue Wege des Kennenlernens bereitstellen, sondern als Liebestechnologien wirken, die Dating emotional und moralisch neu organisieren.

Diese Neuerungen werden sodann kulturell und gesellschaftlich verankert und damit zur Normalität.

Die modernen Dating-Systeme greifen in den nicht-virtuellen Raum ein, indem sie aus diesem Raum die Partnerfindung entfernen, sie gar anstößig machen. Je weniger im nicht-virtuellen Raum möglich ist, desto stärker erodieren seine Normen im virtuellen Raum.

Dating-Systeme definieren dadurch de facto, wo und wie Dating stattfinden kann. Die in ihnen eingebauten Wechselwirkungsdynamiken von Demütigung und Bestätigung wirken unabhängig davon, ob reale Begegnungen stattfinden. Die Nutzer:innen adaptieren sich und lernen im Ergebnis, weniger zu fühlen.

Katherine Elizabeth Joseph: Prekäre Realität und prekäres Begehren

In ihrer Doktorarbeit Exploring Romantic Love, Digital Media, and Subjective Experience gelangt Katherine Elizabeth Joseph mit einem andersartigen methodischen Ansatz zu verwandten Beobachtungen.

Ihr zentraler Begriff ist precarious reality (prekäre Realität):

  • Damit meint sie einen unsicheren, schwebenden Realitätszustand, der durch digital vermittelte Beziehungen entsteht. Beziehungen fühlen sich real an, sind emotional wirksam, aber sie sind strukturell jederzeit abbrechbar, ungesichert und vorläufig.

In dieser prekären Realität entsteht das, was Joseph precarious desire (prekäres Begehren) nennt:

  • Dieses Begehren wird prekär, weil es keine stabile Richtung halten kann. Es richtet sich nunmehr auf Personen, Bilder, Möglichkeiten und Versprechen, die jederzeit verschwinden können.

Sogar komplett fiktive Profile können zum Ausgangspunkt von Begehren werden, ebenso innere Hoffnungen und Imaginationen, die aber wiederum durch die Dating-Struktur erzeugt werden:

  • Das Begehren wird so instabil, weil Kontakte abrupt abbrechen.
  • Es wird verschoben, weil es sich nicht mehr klar auf eine Person richtet, sondern auf Aufmerksamkeit, Bestätigung oder neue Optionen.
  • Es wird gewaltsam verändert, weil Umlenkungen oft unerwartet, plötzlich und ohne jede Erklärung erfolgen: abrupte Abbrüche, Entwertung, Bedeutungsverlust.

Joseph zeigt diese Prozesse anhand der Phänomene von Ghosting, Catfishing und Körperkommodifizierung:

  • Ghosting ist der plötzliche, erklärungslose Kontaktabbruch, der das bereits investierte Begehren ins Leere laufen lässt.
  • Catfishing beschreibt Beziehungen, in denen sich das Begehren auf eine konstruierte oder falsche, oft mit emotionaler, sexueller oder materiell betrügerischer Absicht handelnde Person ausrichtet.
  • Körperkommodifizierung meint, dass Menschen ihren eigenen Körper wie ein Marktobjekt behandeln und wahrnehmen, das optimiert, präsentiert und bewertet wird, wodurch sich Begehren auf Sichtbarkeit, Matches, Likes und Marktwert verschiebt.

Joseph betont, dass im Kapitalismus Unsicherheit, Austauschbarkeit und Wettbewerb Normalzustände seien.

Dating-Plattformen übertragen diese Logiken auf intime Beziehungen:

  • Begehren wird dadurch ständig angeregt, aber nie stabil gebunden. So wird das Begehren entsprechend einer prekären Realität, in der Liebe, Nähe und Anerkennung marktbasiert organisiert werden, selbst prekär.

Was daraus folgt?

In guten und in schlechten Zeiten zusammenbleiben“ erscheint aus dieser strukturellen Dating-Logik fast schon als Zumutung.

In schlechten Zeiten löst der Griff zur Dating-App das Problem.

Die scheinbare Freiheit freilich – hinter der sich das steuernde Dating-System verbirgt – wird zur permanenten Unsicherheit:

  • Ich bleibe nicht in schlechten Zeiten, aber ebensowenig bleibt die andere Person bei mir.

Bleiben oder Nichtbleiben brauchen nicht nur räumlich sein, sie können emotional, virtuell sein:

  • Ich bin in der Dating-App, meine Partner:in ist nebenan.

Ist es unaufhaltsam?

Beide Autorinnen behaupten nicht, dass durch Dating-Systeme etwas entstehe, was es niemals gegeben habe.

Tatsächlich können wir für alle Formen, die die Autorinnen benennen, zwanglos Beispiele wohl aus allen Zeiten der Menschheit finden.

Was aber unterschiedlich ist, ist die Einfachheit und die Automatisierung, mit der diese Prozesse wirksam werden. Es entsteht eine Definitionsmacht über das, was Dating ist, und das kann an den Beziehungen nicht spurlos vorübergehen.

Es ist offensichtlich, dass die Marktlogik auf die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten hinausläuft, weil die sie antreibenden Effekte kurzfristig sind und sich Automatismen ergeben, die alle mitziehen. So wird (vermeintlich) nötig, was möglich ist.

Aber können sich Gegenkräfte entwickeln?

Wir werden in kommenden Jahren und Jahrzehnten sehen, ob sich unsere Liebesbeziehungen grundlegend verändern oder ob doch so stark der Wunsch nach zwischenmenschlicher Stabilität angelegt ist, dass sich stärkere, resilientere Gegenmechanismen zeigen, als wir sie derzeit erkennen können.

Was könnten andere Wege sein

Für mich ergeben sich mehrere Überlegungen:

  • Damit Online-Dating nicht zur Unwirklichkeit wird, können wir uns erden, indem wir uns bald mit der Person begegnen, mit der wir im Kontakt stehen, und sodann ebenfalls möglichst bald aus dem Dating aussteigen.
  • Möchten wir keine Unverbindlichkeit, liegt es noch in unserer Hand, Verbindlichkeit zu vereinbaren: Es kann hilfreich sein, beim gut verlaufenden Kennenlernen das Ende des Online-Datings gemeinsam zu vereinbaren.
  • Nicht jeder wird süchtig, der Opium nimmt: Unser Dating und unsere Liebe werden zu Gamifizierungen, wenn wir der Versuchung zur Mehrgleisigkeit nachgeben. Legen wir bewusst den Fokus auf die eine Person, mit der wir kommunizieren, und schauen keine neuen Profile an, schreiben keine neuen Leute an, können wir uns trotz Spielstruktur vor der Gamifizierung unserer eigenen Person schützen.
  • Dating-Systeme unterscheiden sich im Ausmaß, in dem sie uns gamifizieren, sowie in dem Ausmaß, in dem ihr wirtschaftlicher Erfolg von dem Erfolg der Gamifizierung ihrer Nutzer:innen abhängt. Wollen wir der Gamifizierung widerstehen, sollten wir die „richtige“ Dating-Plattform nutzen.
  • Wir können unsere inneren psychischen Bereitschaften, Menschen außerhalb formalisierter Dating-Systeme an dritten Orten kennenzulernen, aufrechterhalten und reaktivieren. Sind wir sensitiv für menschliche Begegnungen, ist jene Welt nämlich noch nicht verschlossen, auch wenn manche der Befragten von Bandinelli diesen Eindruck gewonnen haben mögen.

Wussten Sie, dass 9 % aller Neujahres-Vorsätze Wirklichkeit werden?

Was wir tun können, damit wir das wahr werden lassen, was wir uns vornehmen, habe ich im letzten Jahr zur Neujahreszeit in diesem Blog-Artikel vorgestellt. Was den Beziehungsbereich betrifft, gehen wir die notwendigen Wege gerne weiterhin gemeinsam mit Ihnen:

▶ Zur Beziehungsfindung bei Gleichklang

  • Wie sind Ihre Gedanken zu dieser Thematik? Ich freue mich, wenn Sie sie unten in die Kommentare schreiben!

Weitere Links:

3 Kommentare

  • Petra Seifert-Ulrich sagt:

    Mir ist völlig unklar, was dieser Blog bewirken soll, denn auch „Gleichklang“ wird durch einen Algorithmus gesteuert, der mich verunsichert und mir unheimlich erscheint. Ich habe schon den Eindruck, dass in der Realität die allermeisten Beziehungen außerhalb von Online-Dating entstanden sind bzw. entstehen. Was sollen Menschen machen, die sich nach einer Beziehung sehnen, jedoch aber kaum soziale Kontakte haben, weil sie eher zurückgezogen leben und ihnen größere Ansammlungen von Menschen unangenehm sind? Es wird sogar von anderen Menschen als Schwäche angesehen, wenn man versucht über das Online-Dating einen Partner zu finden. Ich nehme in der Gesellschaft wahr, dass die allermeisten Menschen in der freien Wildbahn einen Partner finden wollen. Ich selbst finde mich in unserer Gesellschaft nicht so gut zurecht. Dies ist jedenfalls mein Eindruck.

    • Guido F. Gebauer sagt:

      Dieser Artikel wollte die Situation des Online-Datings anhand zweier Studien darstellen, die diese untersuchten. Das, was Du nun schilderst, bestätigt im Grunde die Beobachtungen der beiden Autor:innen. Die Verunsicherung, die entsteht, wirkt sich auf die Partnerfindung auch außerhalb des Online-Datings aus, zumal das Online-Dating diese Räume auch immer mehr verschließt. Der Eindruck, dass die meisten Beziehungen offline entstehen, ist falsch. Mittlerweile hat in westlichen Ländern der Online-Bereich bereits die Mehrheit der Erstpositionen inne. Ich gehe davon aus, dass dies zunehmen wird. Dies hat auch eine positive Botschaft, denn trotz allem entstehen ja weiterhin Beziehungen.

      Meine Empfehlung ist, dass wir uns dem Sog entgegenstellen und unsere Offenheit für Beziehungsentstehung in Offline-Kontexten erhalten. Das ist leichter gesagt als getan, weil Beziehungen immer an zwei (oder mehrere) Personen gebunden sind. Was hilft meine Offenheit, wenn die Offenheit der anderen abwesend ist?

      Gleichklang ist algorithmusgesteuert, aber der Algorithmus folgt den Sucheingaben der Mitglieder. Wir haben den Algorithmus ziemlich detailliert beschrieben, sodass seine Transparenz im Vergleich zu anderen Algorithmen heraussticht. Der Algorithmus ist darauf optimiert, die Sucheingaben der Mitglieder im Sinne ihrer zentralen Werthaltungen und Beziehungsmodelle umzusetzen. Gibt jemand z. B. bei „Monogamie“ die stärkste Verneinung an, wird niemals eine Person vorgeschlagen, die bei Monogamie die stärkste Bejahung eingegeben hat. Über alle Merkmale vermindern sich so anhand der jeweiligen klaren Ausschlüsse Inkompatibilitäten, was umgekehrt heißt, dass Kompatibilität ansteigt.

      Es gibt keine Abhängigkeit von Likes oder Bewertungen (was den Algorithmus in das Oberflächliche verschieben würde). Es gibt keine Berücksichtigung von Geodaten über das Ausmaß hinaus, in dem die Mitglieder dies dezidiert festlegen. Es gibt keinerlei Abhängigkeit von der Fotoattraktivität, und „attraktivere“ Profile werden nicht öfter vorgeschlagen. Auch durch Schreiben oder Antworten lassen sich Vorschläge nicht beeinflussen. Manche wollen das, übersehen dabei aber, dass dies sonst eine Gamifizierung bedeuten würde, bei der Spielnachrichten geschrieben werden, um mehr Vorschläge zu erhalten.

      All dies gesagt, ist es völlig richtig, dass auch Gleichklang einen Algorithmus hat. Was jedoch fehlt, ist die generalisierte Intransparenz und die Optimierung anhand der Gamifizierung. Diese zeigt sich auch bei den Bezahlmodellen:

      Fast alle haben kostenlose Einstiegsmodelle, bei denen der Einstieg kostenfrei ist und danach kostenpflichtige Zusatzfunktionen locken, etwa Premium-Zugänge, Matches, Superlikes oder ähnliche Zusatzoptionen. Dies führt nachweislich direkt in die Gamifizierung und ist in jedem Fall unehrlich. Wir haben deshalb bei Gleichklang eine Gebühr, die für alle Möglichkeiten gilt, ohne Einschränkung. Diese Gebühren werden sozial ermäßigt in Abhängigkeit von der finanziellen Situation, und bei Hartz-IV-Empfänger:innen bis zu nur 6 € im Jahr. Es ist also ein solidarisches und kein gamifizierendes Element.

      Schließlich gibt es bei Gleichklang einen Bereich komplett ohne Algorithmus, nämlich die Community-Kontakte, die wir weiter ausbauen werden. Es sind aber nicht Scrolllisten zur Partnersuche, sondern Projekt- und Gemeinschaftsideen von Mitgliedern. Themenbezogen können sich Projekte oder Gemeinschaften entwickeln, und innerhalb dieser Projekte und Gemeinschaften lernen sich wiederum auch Menschen kennen. Daraus können alle Formen von Beziehungen entstehen.

      Es wäre nicht gut, wenn wir die Partnersuche oder Freundschaftssuche generalisiert durch ein solches Scroll-Modell ersetzen würden. Gerade dann, wenn wir tatsächlich einen Menschen suchen, der Sog, sich alle anzuschauen und zu vergleichen, hoch und dies im Fall der spezifisch beziehungsbezogenen Suche zu Mehrgleisigkeit und einer implizit entstehenden Ablehnungshaltung bei Minderung der Bindungsbereitschaft führt.

      Insgesamt ist es eine komplexe Situation, und ich will auch nicht sagen, dass wir ganz außerhalb stehen. Gleichzeitig habe ich am Ende eine Möglichkeit benannt, wie wir uns jedenfalls selbst davor schützen können, gamifiziert zu werden. Aber einen einfachen Weg, eine AUflösung gibt es in diesem Artikel nicht. Das stimmt.

  • Gerhard Huf sagt:

    Grosses Lob, ihr seid immer nah an der Wirklichkeit.

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